Beim Stichwort Agenda 2010 bekommen Sozialdemokraten, Grüne, Konservative und Liberale leuchtende Augen. Beschäftigungszuwachs wird regelmäßig auf die Agenda-Politik unter Rot-Grün zurückgeführt. Jüngst erreichte die Zahl der Erwerbstätigen mit 44 Millionen einen neuen Höchststand. Ein genauer Blick auf die Zahlen zeigt jedoch zweierlei:

Erstens folgt die Entwicklung am Arbeitsmarkt in erster Linie der Konjunktur – und das sowohl vor als auch nach der Agenda 2010. Verschoben haben sich allerdings die Wachstumskräfte von der Binnennachfrage hin zur Abhängigkeit vom Exportüberschuss. Und zweitens hat die Agenda 2010 nachweislich nicht zu mehr Arbeit, sondern lediglich zu mehr prekärer Arbeit geführt. Es gibt heute genauso viel Arbeit wie vor 20 Jahren, nur teilen sich immer mehr Menschen den gleichen Umfang zu deutlich schlechteren Bedingungen. Abstiegsängste – also die Angst vor Hartz IV und Sanktionen – drängen Menschen dazu, jeden noch so schlecht entlohnten Job anzunehmen. Gewinner sind jene, die von billiger Arbeit profitieren.

Trotzdem bestimmen andere Themen die öffentliche Debatte: Trump, Terror oder Flüchtlinge. Im Wahlkampf lächelt Merkel erneut alles weg; für die kalten Herzen angeblicher Patrioten neuerdings vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund. Die neoliberale FDP ist zurück und die Grünen haben ihre Metamorphose zur „CDU light“ 2017 erfolgreich abgeschlossen. Die SPD indes zeigt weder Skrupel noch Scham und kämpft weiter für soziale Gerechtigkeit. Heute wissen wir, dass das eine Drohung ist. Die Agenda 2010 ist längst als Synonym für ein völliges Desaster sozialdemokratischer Politik in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingegangen. Über ihr Abstimmungsverhalten über die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 haben Rot-Grün Hand in Hand mit Schwarz-Gelb ihre Ablehnung gewerkschaftlicher Positionen mehr als deutlich gemacht.

Gleichwohl entsteht zunehmend der Eindruck, dass die deutschen Gewerkschaften wieder eine besondere Nähe zur SPD pflegen wollen. Das ist irritierend und zugleich ein Schlag ins Gesicht derer, die seit über einem Jahrzehnt unter den Folgen der Agenda-Politik leiden und kein Bein auf den Boden kriegen. Den DGB-Gewerkschaften laufen die Mitglieder davon und unter den Verbleibenden zeigt eine zunehmende Anzahl eine auffällige Affinität, bei Wahlen ihre Stimme den Rechten zu geben. Permanente Deregulierung am Arbeitsmarkt, damit einhergehende Unsicherheit, ein größer werdendes Armutsrisiko und Hartz IV haben der Arbeiterklasse zugesetzt, ihr ihren Stolz und ihr Selbstvertrauen genommen. Die Spaltung unserer Gesellschaft und der Aufwind der Rechten wären so nicht möglich gewesen, hätten sich nicht Sozialdemokraten Anfang des neuen Jahrtausends zur Speerspitze des Neoliberalismus gemacht.

Was also bleibt? Aktiv werden! Aktiv werden gegen diejenigen in Gesellschaft und Politik, denen diese Spaltung nützt. Solidarisch miteinander – im Betrieb, im Kiez oder in der Gewerkschaft.

von Jan Richter, Bundessprecher der AG Betrieb & Gewerkschaft